Etappe Zemun – Grocka

Belgrad! Heute! Wahnsinn! Reicht euch nicht? Dann hier mehr! Macht mich aber nicht für Nebenwirkungen verantwortlich!

Tatsächlich, größere Kontraste als in Belgrad habe ich bislang in keiner Stadt gesehen. Wie kann ich das am Besten beschreiben? Stellt euch vor, ihr habt ein supermodernes Wohnzimmer mit vielen klaren Formen. Glas, Metal, Ledercouch, alles in hell und sauber strukturiert. Und dann holt ihr euch ein gebrauchtes, vergilbtes Billy-Regal in Echtholzoptik vom Sperrmüll und stellt es genau mitten in den Raum. So ist Belgrad.

Du fährst über einen tollen Park auf weitläufigen Wegen direkt an der Donau hinein. Auf dem Fluss liegen überall Party- und Restaurantboote. Die Menschen – alle hübsch und gut gelaunt. Die Sonne scheint und du denkst einfach nur wow, wie geil. Diese Stadt ist ja mal richtig cool. Dann fährst du weiter und revidierst deine Begeisterung zu Im Großen und Ganzen ist sie echt hübsch. Ein Stück weiter: Bis auf ein paar Ecken, richtig toll! Wieder ein paar Kilometer weiter: Bis auf ganz schön viele Ecken.

DAS ist Belgrad.

Ein Wechselbad der visuellen Eindrücke und Gefühle. Belgrad ist hier dreckig und da wunderschön. Belgrad ist ganz oben und ganz unten. Aber Belgrad ist absolut einzigartig. Leben möchte ich hier nicht, aber weg… eigentlich auch nicht. Diese Stadt definiert Großstadtcharme völlig neu. Arm, aber sexy? Berlin ist ein Stümper gegen Belgrad. Während Städte wie Bratislava sich unheimlich bemühen ihr angestaubtes Ost-Image aufzupolieren, setzt Belgrad offensichtlich auf die Chaostheorie. Sie bauen dort neu, wo das Alte von selber weicht und das setzen sie konsequent um. Die Altstadt ist unglaublich liebevoll saniert, der Rest wächst, wie es ihm in den Kram passt. Und warum sollte der Belgrader anders als seine Heimatstadt sein? Er lebt, wie es ihm passt und auch das spürt man. Er schubst, er drängelt und er starrt neugierig. Er kommt, er fragt und unaufgefordert beratschlagt er dich. Der Belgrader ist (ohne ihn auch nur bruchstückhaft zu kennen) so wie die Stadt, in der er lebt. Unaufdringlich aufdringlich.

Für die Radler unter euch: Finger weg von Belgrad, aber fahrt da hin! Denn während der Donauradweg zu erst noch an der Donau entlang führt, wechselt er nach ein paar Kilometern die Seiten. Dann müsst ihr über eine Brücke in die Stadt fahren. Der Weg auf die Brücke herauf ist noch fahrbar, wieder runter kommt ihr mit einem Lift. Oben ein Knopf mit Hinweisschild: Bitte nur einmal drücken inklusive 3 fett gedruckter Ausrufezeichen. Etwas kleiner stehen die Öffnungszeiten des Liftes: 09:00 – 13:00 und 13:45 – 18:00 Uhr. Warum nur einmal drücken, erschließt sich einem oben auf der Brücke nicht ganz. Drücken und feststellen, dass das Drücken überhaupt nix bringt, weil es 13:03 Uhr ist, ist blöde. Also sucht man sich einen Alternativweg und egal, was ihr so vorhabt… sagt das nicht euer Versicherung. Denn wenn die das wüssten, würden sie eure Prämie anheben. Das Chaos am anderen Ende – unbeschreiblich. Mein Tipp: rechnet zur Touristensaison mit vielen Bussen, Strassenbahnen, Autos, LKW, enorm hohen Bordsteinkanten und mit vielen Menschen, die viel zu schnell irgendwo hinwollen. Wenn nicht Touristensaison ist, wird es übrigens ähnlich sein..

Der Lift hat eine Höhe von ca. 6 Meter, die Umfahrung dauerte bei mir fast eine halbe Stunde, nur um unten festzustellen, der Fahrstuhlführer (ein Arbeitsplatz, der bei uns leider verschwunden ist) hat gerade Mittagspause. Ah, deshalb nur einmal drücken. Der Typ hat einfach nur keinen Bock auf Nerverein durch Touris.

Ab hier wird der Weg auch wirklich spannend. Wieder einen Kilometer mehr weicht er nämlich von der Donau ab und führt direkt in die lebhafte Innenstadt. Erst ein Tunnel, dann eine Straße, die zu allem taugt, außer zum entspannte Radeln. Mit einer Steigung versehen, die einen neidisch auf seine motorisierten Artgenossen macht, und voller Verkehr, entschloss ich mich, lieber gleich das intakte Rad zu schieben, als zu warten, bis mich wer runterwirft und ich ein verbeultes habe.
Aber auch das ist Belgrad und interessanter Weise ärgert man sich nicht einmal darüber, bekommt man doch eine wunderschöne Stadt geboten. Hier lasse ich mal wieder die Bilder wirken.

Sobald man die Innenstadt verlassen hat, geht es schnell. Und zwar nicht unbedingt zeitlich gesehen. Aber der Weg wechselt die Straßen, die Autos ziehen in hohem Tempo an dir vorbei und plötzlich stehst du schon wieder am Stadtrand. Jetzt gilt es nur noch diese was-zum-Geier-haben-die-sich-dabei-gedacht-Autobahnbrücke zu überqueren. Das war zuviel für mich. Wenn es überhaupt einen günstigen Zeitpunkt zum rauchen gab, dann der, bevor ich die letzten Meter meines Lebens fahre. Also rechts ran, und mal in Ruhe eine durchziehen und den Blick schweifen lassen.

Hier fallen die Kontraste der Stadt noch viel mehr ins Gewicht. Alt und hässlich neben neu und, naja, auch (teilweise) hässlich. Da gucke ich doch lieber von der Brücke nach unten. Oh, eine Müllkippe… mit sammelnden Menschen. Ja, genau so ist Belgrad. Die Stadt ist ein Spiegelbild des Landes. Nicht mehr und nicht weniger. Serbien in konzentrierter Form. Hier triffst du alles, vom Bettler bis zum Millionär. Und niemand schönt diesen Umstand.

Im Nachhinein bin ich dankbar für diese Zigarette. Gab sie mir doch einerseits die Möglichkeit, diese Stadt so zu sehen, wie ich sie euch beschreibe, anderseits habe ich entdeckt, dass hier ein Fußweg über die Brücke führte, den ich auf Grund seiner hohen Borsteinkante von der Fahrbahn aus niemals hätte erreichen können. Jedenfalls nicht aus dem fließenden Verkehr heraus. Also schob ich den Weg über die Brücke und fand mich ein paar Minuten später in einem der schönsten Gebiete wieder, die ich je durchfahren habe. Innerhalb einer halben Stunde wechselte die Umgebung von hektischer Großstadt in eine Auenlandschaft, wo ich jederzeit auf Frodo treffen konnte. Diese Stadt hat ein Flair, was seinesgleichen sucht und ich hatte wieder einmal viel zu wenig Zeit, für viel zu viel zu sehen.

So, ja genau so – so ist Belgrad.

Und zack: