Während ich so am Wienbericht sitze und mein Akku langsam nach einer neuen Ladung ruft, bemerke ich, was für ein unglaubliches Glück es doch ist, das hier alles erleben zu dürfen. Hatte ich bislang noch gar keine Zeit, mir dessen bewusst zu werden, spüre ich plötzlich eine Art positive Überreizung meiner Sinne. Also schnell das Tab an die Steckdose hinter meinem Zelt, mein Übersetzungsmalbuch geschnappt und aufgeschrieben, was mir da so urplötzlich durch den Kopf fährt. Was ich da schreibe, ist das Emotionalste, was mein Verstand jemals ausgebrütet hat und sicher nicht für andere Augen bestimmt, aber trotzdem spüre ich das viel beschriebene Freiheitsgefühl in mir.
Jetzt beginnt die Reise trotz ihrer zahlreichen Entbehrungen ihre Wirkung zu entfalten. Hier und jetzt, das wird mir bewusst, bin ich frei, weil ich genau dort bin – so suggeriert mir mein Verstand – wo ich sein sollte. Unterwegs – meine Neugier stillen. Ist das nicht der Unterschied zwischen uns und den Tieren, dass wir uns unser Selbst bewusst sind, und dass wir keine Möglichkeit auslassen sollten unseren Verstand mit neuen und spannenden Dingen zu füttern?
Das hier alles wäre ohne die Unterstützung mir nahestehender Menschen gar nicht möglich und wenn der verrückte Ungar, auf dessen Campingplatz ich gerade wohne, nicht den wagemutigen Versuch gemacht hätte, diesen Platz zu eröffnen, wäre die vorherige eine ziemlich einsame Nacht irgendwo an der Donau gewesen.
Erst jetzt begreife ich, wie viele Menschen sich abrackern, damit Wissensdurstige wie ich ihre Gier stillen können.
Aus sechs Seiten teils wahnsinnigen Gekritzels bleibt ein Gedanke fest verankert. Ich bin unglaublich dankbar. Dankbar, dafür, dass ich das hier erleben darf. Dafür, dass sich in meinem Rücken immer Menschen befinden, die mir selbigen frei halten. Ja selbst für die kleine, tollpatschige ungarische Kellnerin, die ihre Unsicherheit hinter allerlei Faxen verbirgt. Ohne sie und ohne euch wäre das eben nur ein Urlaub wie jeder andere. Das hier ist aber viel mehr. Ich spüre die Veränderung in mir, und das nur wegen des einfachen Vorsatzes etwas von der Welt sehen zu wollen.
Mark Twain hatte doch Recht. Reisen ist vor allem eines: Schlecht für Vorurteile.
Ich weiß, dass diese Art der Reise für die meisten von euch unmöglich ist, aber ich wünsche jedem nur einmal im Leben dieses großartige Gefühl, das ich seit Tagen verspüre und bin mir ziemlich sicher, dass man dies auch im Kleinen erleben kann, wenn man es zulässt. Ich für meinen Teil verspreche, egal wie lange diese Tour noch gehen mag, ab sofort die Welt bewusster wahrzunehmen. Die schönen Dinge viel mehr zu genießen und das Leiden bei schlechten Sachen nicht mehr hinter irgendeiner Fassade zu verstecken. Denn das habe ich trotz meiner Schimpferei gelernt: So beschissen die Bergauffahrt auch ist, die Belohnung durch den Ausblick ist es allemal wert und danach… geht es auch wieder bergab. Und auch das kann manchmal durchaus positiv sein.
Ein kurzes Statement zum von mir so großschnäutzig angekündigten Wildcampen möchte ich noch loswerden. Was für Jeremy und Nadine die optimale Art der Nächtigung ist, wird es bei mir (außer in absoluten Notfällen) auch weiterhin nicht geben. So toll die morgendliche Dusche im wilden Bach auch war, ziehe ich dieser einer mit warmen Wasser tatsächlich vor. Das ist aber nicht der Hauptgrund. Ich sitze teilweise stundenlang allein auf dem Rad. Nur mit dem Fahren und meinen Gedanken beschäftigt. Ich brauche einfach den menschlichen Anschluss am Abend und wie man sieht, bereichert er mein Leben unheimlich. Dabei sind es nicht unbedingt die vorhersehbaren Bekanntschaften mit Campingplatzbetreiber oder Pensionswirten. Sondern vielmehr die Begegnungen mit anderen Verrückten wie Adrian, Glenn oder Laurent (über den ihr später noch lesen könnt). Die Begegnungen mit den Menschen, die wie ich einfach nur auf dem Weg sind, aus unterschiedlichsten Motiven.
Das, so habe ich an diesem Abend in Esztergom erkannt, sind die Erfahrungen, die mich am meisten bereichern und die will ich unter keinen Umständen missen.
Allerdings macht das die Reise natürlich ein bisschen kostspieliger und ich kann daher nicht absehen, ob ich mein Ziel Athen erreichen kann. Aber selbst wenn nicht, es ist nicht so schlimm. Fange ich halt beim nächsten Mal dort an, wo ich dieses Mal aufhören muss. Wie ich bereits im Vorwort sagte, weder die Dauer noch die Strecke sind entscheidend, auf die Erfahrung kommt es an. Und diesbezüglich war die Reise bereits jetzt ein unglaublicher und niemals von mir zu erwartender Erfolg.
Bis dann,
Euer Christian.
P.S. Und keine Panik, ich bin heute am südlichsten Zipfel Ungarns, von wo es morgen nach Serbien weitergehen wird. Ein bissche Kohle ist noch da und Belgrad lass ich mir auf keinen Fall nehmen.
Also ein paar Berichte kommen noch. 🙂