Etappe Nelahozeves – Prag

Hätte ich heute Morgen geahnt, was an diesem Tag auf mich zukommt, wäre ich wohl lieber noch einen Tag länger geblieben. Aber hey, es waren nur noch 38 Kilometer bis zu meiner ersten ausländischen Hauptstadt und auch wenn ich erst im vergangenen August dort gewesen bin, freute ich mich diebisch, einmal mit dem Rad dort durchzufahren. Also noch einmal schnell die Vorräte aufgefrischt, etwas Frühstücksähnliches inhaliert und ab ging die Post. Und siehe da, wer Schilder lesen kann, ist klar im Vorteil. Nachdem ich mich ca. eine halbe Stunde rechts der Moldau durch das Unterholz gekämpft hatte, merkte ich mit meinen Sherlock Holmes ähnlichen Instinkten, dass hier irgendwas faul war. Der offizielle Radweg führt nämlich links der Moldau entlang. Also flott, wie ein SED-Mitglied nach dem Mauerfall, die Seiten gewechselt und siehe da, links ging alles viel leichter. Ich kam trotz ein paar ziemlich fetter Anstiege richtig gut voran und hatte zwischendurch auch noch die Zeit ein halbes Stündchen an einem Gebirgsbach zu verweilen.

Dann war es endlich so weit. Das schöne Prag! Endlich ein vermeintlich schlüssiger Radweg entlang der Moldau, der einen genau dort langführt, wo man auch als Tourist unglaublich viele und schöne Eindrücke sammeln kann. Und genau da war mein Denkfehler. Es war Sonntag und es war herrliches Wetter! Kurzum: Tourizeit! Halb Europa schien sich für einen Spaziergang an der Moldau entschieden zu haben und ein Ausweichen war absolut nicht möglich. So wurde aus meinem Plan, Prag nur schnell zu durchqueren, ein endlos langer Schiebe- und Drängelmarathon. Ihr glaubt gar nicht, wie glücklich ich war, dann doch endlich durch zu sein und ich habe dann auch kräftig in die Pedale getreten, um möglichst schnell von den Menschenmassen wegzukommen. Vielleicht ein bisschen zu sehr… Denn fast zehn Kilometer hinter Prag stellte ich fest: Du bist hier völlig falsch! Der Radwanderweg geht nämlich entlang der Moldau in Richtung Linz und da wollte ich gar nicht hin. Ich will ja nach Brünn!

Nun hatte ich ja bereits die sich mir nicht ganz erschließende Sinnhaftigkeit der tschechischen Radwegbezeichnungen erwähnt. Von diesem Radweg gehen viele in die vielleicht richtige Richtung ab, aber welche genau – ohne entsprechende Karte unmöglich herauszufinden. Nun war guter Rat teuer. Ich wusste zwar, dass es einen Radweg von Prag nach Brünn geben sollte, aber natürlich hatte ich keinen Schimmer, welcher das war. Also drehte ich um und fuhr direkt in mein Verderben. Ich lasse dieses Drecksgewitter an dieser Stelle einfach mal unkommentiert. Immerhin verschaffte es mir eine unterhaltsame Stunde mit einem tschechischen Rennradfahrer unter einer Brücke, der nach der Offenbarung meines Plans eigentlich nur immer wieder sagte: „<em>You are crazy!</em>“ – Piffpaff! Erzähl mir was Neues. Aber wie sollte man das auch nicht werden, wenn man ständig von diesem Wetter malträtiert wurde? Ich war also wieder nass bis auf die Knochen und meine Frage nach einer günstigen Pension in der Nähe konnte von meinem Leidensgenossen auch nicht beantwortet werden. Rennradfahrer kommen nämlich meist nicht von den Flecken, wo sie unter einer Brücke stehen. Ist wohl irgendeine chinesische Weisheit, die mit Weg x Geschwindigkeit berechnet wird.

Mir fiel nichts besseres ein, als das Hotel aufzusuchen, das ich im letzten Jahr bereits für mein Pragwochenende bewohnt habe. Das hatte ich noch wegen des günstigen Preises gut in Erinnerung. Allerdings müssen die inzwischen erheblich mit Ado-Gardinen saniert haben und sagten den stolzen Preis von 83 € an. Das ging schon aus Prinzip nicht. Kapitalistenschweine! Was sollte ich tun? Klatschnass und demotiviert entschied ich mich erst einmal für ein bisschen Verzweiflung. Immerhin war es nach meiner Irrfahrt bereits fast 20 Uhr und das Wetter wollte nicht wirklich schöner werden. Ich bemühte erstmals das Handy und suchte mir ein radfreundliches Hotel heraus. Schnell die Adresse ins Navi eingegeben und los ging die wilde Fahrt durch die ganze Stadt.

Das Navi ist immer bemüht mich möglichst abseits von viel befahrenen Hauptstraßen zu halten und so schickte es mich ein ums andere Mal durch Gegenden, die ich lieber nicht von Prag gesehen hätte. Während sich rechts der Moldau die Touristen zum abendlichen Bestaunen der Schiffsparade versammelten, legten sich entlang der Route die Stadtstreicher zum Schlafen nieder. Nicht die Tatsache, dass die Ärmsten der Armen sich unter freiem Himmel bei nicht berechenbarem Wetter versammelten, sondern dass es solche Massen waren, deprimierte mich. Klar weiß ich, wo viel Reichtum ist, da sammeln sich auch die, mit denen es das Leben nicht so gut meint. Aber dass es derartige Ausmaße annehmen kann, warf mich um. Wir bauen unsinnige Flughäfen und verschleudern Millionen Euros, während hier scheinbar nicht mal die Möglichkeit zur Resozialisierung gegeben wird. Irgendwann muss doch mal einer merken, dass die Verteilung von Zahlungsmitteln unglaublich ungerecht vonstatten geht. Die Verfechter unseres Systems werden jetzt wieder argumentieren, dass viele von denen sich das selbst so ausgesucht haben, aber liebe Freunde, ich kann mir das beim besten Willen nicht vorstellen. Ich musste das erst einmal sacken lassen, bevor ich mich dann weiter auf die Hotelsuche machen konnte.

Meine Hotelwahl erschien mir im angesichts dessen dann umso grotesker. Ein wunderbares Zimmer direkt in einem alten Kloster. Einem ehemaligen Haus des Herrn, dessen Sohn Barmherzigkeit gegenüber den Armen und Minderbemittelten gepredigt hat. Ich bin kein bisschen religiös, aber die Grundwerte der Menschlichkeit liegen mir dennoch sehr am Herzen. Deshalb schließe ich heute auch mit den wirklich ernst gemeinten Fragen: Wo sind wir eigentlich hingekommen? Kann die Jagd nach „immer noch mehr“ wirklich alles im Leben sein, oder sollten wir uns nicht doch so langsam mal wieder der Dinge besinnen, die uns alle betreffen?

Mit diesen Gedanken ging ich trotz des Weltmeistertitels ein wenig betrübt ins Bett. Es war das erste Mal, dass mir diese Reise auch die Schattenseiten unserer Gesellschaft offenbart hat. Es ist nicht alles Gold was glänzt. Und schon gar nicht in der goldenen Stadt an der Moldau.